Die Videoinstallation "Soviet Baroque" der Künstlerin Mariya Vasilyeva dient der Rekonstruktion bzw. Inszenierung eines Raumes, der eine positive wie auch negative Konnotation innehat. Wir sehen eine skizzenhafte Raumdarstellung der Wohnung ihrer Großmutter aus Kiew am Boden (Vgl. Dogville, Lars von Trier, 2003): Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Badezimmer. Weitwinkelbeamer projizieren auf zwölf großen, beschichteten MDF-Platten Videocollagen, die Vasilyeva zuvor zusammengeschnitten hat.


Den emotionalen Ambivalenzen (Gewalt und Liebe) tritt die Künstlerin gegenüber und reflektiert ihre Kindheit, besonders aus der Sicht als Erwachsene. Die Besucher*innen werden daher mit dem Erlebten und/oder den Erlebnissen, die Vasilyeva transportieren möchte, konfrontiert: Ihre Arbeiten sind von der künstlerischen Praxis der Selbstdarstellung geprägt. Ihre emotionale Diskrepanz (lateinisch discrepantia ‚Nichtübereinstimmung') gibt sie visuell und akustisch wieder.


In den ersten Jahren der Kindheit wird die Psyche des Menschen geformt. Daher ist die Inszenierung der Räumlichkeiten ein Spiegel nach außen. Die reflektive Erfahrung für das Publikum ist dementsprechende intensiv. Vasilyeva verwendet lediglich authentische Gegenstände und Klamotten, die aus der Wohnung stammen, um Rollenbilder zu untersuchen – d.h. es wurde nichts extern hinzugefügt.


Soviet Baroque handelt von üppigen, körperlichen Ästhetiken, welche durch das Fleisch und die Kostüme symbolisiert werden. Diese werden dem öden, sowjetischen Alltag gegenüber gestellt, der vor allem vom Defizit bzw. Mangel an Gütern geprägt war. Auch hier spürt man Vasilyevas Ambivalenzen, die stark an die progressive Bildsprache der feministischen Kunst der 70er Jahre erinnern: Haut und Fleisch, Fleisch als Haut, das Innere nach außen zu tragen, umzustülpen und zum eigenen Körper zu machen – dieser Akt kann in der Tradition von Carolee Schneemann (Meat Joy, 1964) oder Renate Bertlmann (Ausstülpung, 1982) gelesen werden. Schon fast märchenhaft spielt Vasilyeva mit Metaphern als Stilmittel, wenn sie Kondome aufbläst und zu einer pompösen Stola positioniert oder wie in Grimms Geschichte von Hänsel und Gretel versucht in den Backofen zu steigen.


Sie betont zudem die Mortalität durch die Vanitas-Symbolik, die besonders im Barock präsent war. Der Selbsttod soll als letzter Ausweg versinnbildlicht werden: Hiermit nimmt die Künstlerin Bezug auf die traditionelle Gretchenfrage (Sexualmoral) und Gretchentragödie (Vgl. Kindermörderinnen/Selbstmord durch die Gesellschaft bedingt) hinsichtlich der Schuld und Scham, die durch Sozialisierungs- bz. Konditionierungsprozesse stetig reproduziert wurden/werden. Vasilyeva verbindet diese Extreme – Eros und Thanatos – zu einer Symbiose innerhalb ihrer Videoinstallation.


Indem sie persönliche Erziehungsfragen reflektiert, stellt sie auch allgemeine Gesellschaftsstrukturen bzw. die gesellschaftlichen Normen und Werte in Frage: Sie trägt das Persönliche nach außen und drängt die Betrachter*innen zur Reflexion dieser soziopolitischen Sujets. Damit beweist Vasilyeva, dass das Private noch immer politisch ist und immer bleiben wird.